SONNENBERG. Amüsant geht Hamlet“ auch – auf jungen, zumeist nackten Beinen und stirbt auf dieselbe, nämlich unterhaltsame Art. Es ist der alte Shakespeare-Plot von Brudermord. Königin Verführung, Kronenraub und Rache am dänischen Hof – die Dynamik aber ist neu in dieser Aufführung unter dem Titel „Being Hamlet“ (Hamlet-Sein in fantasievoller Variation des berühmtesten aller Monologe der Theatergeschichte) im Sonnenberger Burggarten, einer Kooperation von kuenstlerhaus43 und der Musical Academy Mainz, die gestern Abend Premiere hatte. Susanne Müller vom kuenstlerhaus43 begrüßt vor einem gut, aber nicht ganz voll besetzten Publikumsrund zum 10. Sommerfestspiel-Geburtstag, dankt allen Förderern, darunter der Stadt, deren Kulturdezernent Axel Imholz (SPD) wiederum zum „besonderen Stellenwert“ des Hauses beglückwünscht. Blubb-blubb“ geht Ophelia mit der Gießkanne ins Wasser. Da haben wir neun Stühle auf der Bühne und den dunklen Hintergrund mit beweglichen Durchblick-Streifen schon betrachten können, als der unvermeidliche Theaternebel hindurch quillt und durch ihn wiederum ein Totenschädel erscheint. Totengräber Patrick Twinem sitzt bereits neben der Bühne. so schwarz wie auch die Figuren körperteilweise bekleidet sind, die mit dem Song „They Called Me The Wild Rose“ das Toten-Motiv von Beginn an klingen lassen. Die Abschlussklasse der Musical Arts Academy Mainz hat auch Tanz gelernt und bietet ihn geschmeidig gymnastisch und sehr synchron (Choreografie: Isabella Clara Arndt). Auftritt Polonius und Sohn Laertes: Mädchen sind’s (sehr beweglich Lara Annika Henneberger und Tamara Viola Kurti schön streng). Auftritt Hamlet: eine junge Frau, nämlich Naomi Esther Lohse-Baumert. die bravourös die Titelrolle beherrscht. mit sich selbst als Horatio Dialog führt und – tolle Idee – in der Schauspiel-Szene im Schauspiel als Frau einen Mann spielt, der eine Frau spielt. Dass – bis auf den König Claudius (Kristof Ertl mit kräftiger Stimme) – alle Rollen mit Frauen besetzt sind, ist dem weiblichen Überangebot der Akademie zu verdanken, die großartigen Ideen Regisseur Ulrich Cyran, der die Problemschwere des Dramas in kurze. nahtlos flotte Szenen, den Text von Schlegel/Tick bis ins „Hey-Hau-ab“-Idiom auflöst und auch unter den Parts neu verteilt, während Ausstatterin Nathalie Mayer auf variiertes Schwarz (bis zum Fußballer-strumpf) und triefendes Rot beim Schauspiel-im-Schauspiel-Triumph setzt.
Dass „Being Hamlet“ heute spielt, wird in den Tattoo-Hemdchen aller sichtbar. Die Musikverantwortliche Kate Nelson träufelt zum Gift ins Königsohr das Schlaflied „Through The Eyes Of A Child“ mit Techno-Folge, zu der meine Nachbarin mit den Zehen klopft. Dann ist die graue Tapete Polonius knack-knack umgebracht, und Ophelia ist blubb-blubb mit der Gießkanne ins Wasser gegangen. Augenzwinkernd eingängig und optisch wirkungsvoll lädt das Bewegungstheater zur Pause. Es dunkelt und die Tauben sind schlafen gegangen. Und wenn die Totenköpfe wieder jetzt sind es viele – aus dem Vorhang lugen, sich gar zur Pyramide aufbauen, ist es Zeit für die ultimative Hamlet-Show. „There’s No Business Like Show Business“ – und „Hamlet“ das größte auf dem Theater – lebensverändernd, so dessen Darstellerin in eingeschobener Zwiesprache mit dem Publikum. Im Spiel jedoch zeigt der Laufsteg zur Bühne seine volle Wirkung, da das Ensemble als Totengräberinnen naht (unter ihnen auch kuenstlerhaus43-Intendant Wolfgang Vielsack) und sich nach dem letzten tödlichen Duell in Zeitlupe Rücken an Rücken an die Arbeit macht. Kirchenglocken läuten. Das ist Sonnenberg. „Death is not the end“ ist »Being Hamlet“ im Burggarten. Johlen, schrille Schreie, Applaus im Stehen für eine rhythmisch spritzige, brillant witzige Show mit hoch ambitionierten Darstellerinnen. Drei Männer waren auch dabei.
Von Viola Bolduan // Wiesbadener Kurier // 25.07.2022